Mittelalterliche Bewertung von gleichgeschlechtlicher Sexualität

Über das Leben gleichgeschlechtlich begehrender Menschen im Mittelalter wissen wir nur wenig. Da die meisten Menschen weder lesen noch schreiben konnten, sind ihre (sexuellen) Vorstellungen und Alltagspraktiken nicht direkt überliefert. Vorhanden sind nur „Bußbücher“ oder Strafgesetzbücher, die gleichgeschlechtliche Handlungen aufgreifen.

Erstere lieferten Vorschriften für ein Leben frei von Sünde. Letztere legten Strafen fest, wenn gegen diese Vorschriften verstoßen wurde. Vorhanden sind auch Akten von Prozessen, in denen Sex zwischen Männern verhandelt wurde. Diese Männer wurden als „Sodomiten“ bezeichnet.

Gleichgeschlecht­liche Handlungen als Sünde gegen Gottes Ordnung

Im europäischen Mittelalter (ca. 500 bis 1450 u.Z.) prägte der Gegensatz von Natur (= so von Gott gewollt) und Widernatur (= Verstoß gegen Gottes Willen) die Vorstellungen zur Sexualität. Die Menschen glaubten, Gott würde sie bspw. durch ein Unwetter bestrafen, wenn sie gegen seinen Willen verstoßen. Zur „Sünde der Widernatur” zählten neben der gleichgeschlechtlichen Sexualität auch der heterosexuelle Anal- und Oralverkehr sowie Masturbation und Sex mit Tieren. Für die Kirche war nur der Geschlechtsverkehr moralisch gerechtfertigt, der in der Ehe zur Fortpflanzung diente. Ab dem 12. Jahrhundert konnten die Bischöfe ihre Verurteilung der Sodomie auch in den weltlichen Gesetzen verankern: Sodomiter galten nicht mehr nur als sündig, sondern auch als Verbrecher*innen, die mit dem Tode zu bestrafen waren. Die erste dokumentierte Exekution eines Sodomiten fand 1277 statt; der Scheiterhaufen wurde zum Sinnbild der vollzogenen Todesstrafe.

Gleichgeschlecht­lich begehrende Männer als Randgruppe

Gleichgeschlechtlich begehrende Männer waren wahrscheinlich meist verheiratet und hatten zugleich sexuelle Beziehungen zu anderen Männern. Die sexuellen Kontakte fanden meist im häuslichen Rahmen statt oder an städtischen Treffpunkten wie Gasthäusern, Befestigungsanlagen, Badehäusern oder Toiletten.

Im Spätmittelalter gab es bereits vereinzelt Netzwerke von gleichgeschlechtlich begehrenden Männern. Inwiefern sich im Mittelalter gleichgeschlechtlich handelnde und begehrende Menschen als (selbst-)bewusste Repräsentanten einer „anderen“ Sexualität wahrnahmen, lässt sich aufgrund der fehlenden Berichte nur schwer einschätzen. Vor Gericht aber bezeugten einzelne Männer, niemals ein Verlangen nach Frauen verspürt zu haben; sie bestanden darauf, dass ihre gleichgeschlechtlichen Gefühle ganz natürlich sind.

Doppelt unsichtbare Frauen

Gleichgeschlechtlich begehrende Frauen sind im Mittelalter doppelt unsichtbar: zum einen wird kaum Forschung über sie betrieben. Ausnahmen sind z.B. Studien zu den christlichen Gemeinschaften der Beginen (das sind Frauen, die in Beginenhöfen ein religiöses, eheloses Leben lebten) sowie Studien zu Crossdressing, wobei Frauen in männlichen Rollen lebten und intime Beziehungen zu Frauen hatten. Zum anderen fehlt ein eigener mittelalterlicher Begriff. Frauen begehrende Frauen bleiben in mittelalterlichen Texten verborgen; nicht penetrative sexuelle Praktiken wurden „ausgeblendet“. Solange männliche Vorherrschaft und Geschlechterhierarchie intakt blieben, galt Sex unter Frauen nicht als besonders ernstes Vergehen. Im 13. Jahrhundert wurden weib-weibliche Sexualkontakte zumindest theoretisch zur Sodomie gerechnet. Die Strafe war aber geringer als bei Männern. Sehr gefährlich für Frauen wurde gleichgeschlechtliche Sexualität erst im 15. Jahrhundert durch die Hexenprozesse. Die „Hexe” wurde verfolgt als eine sexualisierte Frau, die die Vorherrschaft der Männer in Frage stellte und die nicht nur (sexuelle) Kontakte mit dem Teufel, sondern auch mit ihresgleichen pflegte.

Illustrationen: Darcy Quinn