Homosexualität in islamisch geprägten Lebensräumen

…oder wie der „Westen“ den Heterosexismus exportierte

Wenn wir von „Homosexualität in anderen Ländern“ reden, wird häufig außer Acht gelassen, dass Homosexualität, wie wir sie definieren, eine westlich-eurozentristische Vorstellung des 19. Jahrhunderts ist. Auch in vielen islamisch geprägten Ländern gab es kein vergleichbares Konzept. Hierzulande wird häufig der Vorwurf laut, in den meisten islamisch geprägten Ländern bestünde eine homophobe Grundeinstellung und dass diese Einstellung „rückständig“ sei. Dahingehend stellen sich jene, die solche Behauptungen aufstellen, als „fortschrittlich-moderne“ Liberale dar – und unterschlagen dabei, dass die Idee von Heterosexismus  durch die Kolonisierung der Länder aus Europa in die meisten Länder exportiert wurde.

In westlichen Gesellschaften ist häufig die Rede von einer „generellen Homophobie des Islams“. Doch basiert die juristische Verfolgung homosexueller bzw. queerer Menschen auf von den Kolonialmächten mitgebrachten Rechtsvorstellungen. Auch in den Ländern des sogenannten „nahen und mittleren Ostens“ sind die  Vorstellungen zu Begehren und Lust zwischen Menschen des gleichen Geschlechts facettenreich und historisch durch viele Entwicklungen und Einflüsse geprägt. Insbesondere die mannmännliche Sexualität wurde in islamischen Kulturen häufig thematisiert. So gab es religiöse Gelehrte, die ihre Liebe zu einem jungen Mann in Gedichten bezeugten. Anders als im christlich geprägten Raum galt Homosexualität in muslimisch geprägten Regionen lange nicht als ein für das Familiensystem gefährliches Problem. Sexuelle Praktiken galten als Privatsache und Sexualität wurde nicht öffentlich diskutiert.

Der Koran

Bei der westlichen Verurteilung über die Reglementierung sexueller Vielfalt in muslimisch geprägten Staaten wird häufig der Koran als das „Nonplusultra-Argument“ zurate gezogen. Tatsächlich lassen sich im Koran keine eindeutigen Hinweise zum Umgang mit Homosexualität finden, dies schließt auch eine etwaige Verurteilung ein. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die islamische Rechtstradition – genauso wie bspw. die christliche – von einem heterosexuellen Subjekt ausgeht. Allerdings sollte die Anziehungskraft von Männern und „Jünglingen“ auf andere Männer zu „Freundschaften und Schöpfungsliebe führen“.

 In vielen muslimisch geprägten Ländern wurde (mannmännliches) sexuelles Verlangen auch nicht unter Strafe gestellt und dies gilt für viele auch heute noch. So wurde bspw. bis zum 19. Jahrhundert keine harte Strafe aufgrund von mannmännlichem Analverkehr nachgewiesen. Dies änderte sich erst durch die Kolonialisierung und der Aufdrängung oben beschriebener „westlicher Werte“.

Dieses Fehlen einer moralischen Verurteilung in vielen muslimisch geprägten Ländern führte dazu, dass viele gleichgeschlechtlich begehrende Männer ab dem 19. Jh. dorthin reisten und dies zum Teil auch heute noch tun. Insbesondere von der heteronormativen westlich-europäischen Seite wurde in jener Zeit dieses offene Ausleben gleichgeschlechtlicher Sexualität kritisiert: diese entsprach nicht den dort vorherrschenden Normen der Sittlichkeit und dem, was als „normal“ galt. Diese Verurteilung hatte Folgen: entweder kam es unter dem Druck der militärisch überlegenen Europäer*innen zu einem Einstellungswandel, insbesondere in der Oberschicht; diese übernahm westliche Einstellungen, um an den Westen Anschluss zu finden. Oder die Einführung europäischer Gesetze gegen „Sodomie“ führte zu Verhaltensänderungen.

Auch heute wird das Thema „Homosexualität und Islam“ von den westlichen Medien, Wissenschaften und Gesellschaften diskutiert und zum Teil fremdbestimmt. Selten werden realitätsnahe Lebenswelten in dieser Betrachtungsweise mit einbezogen.

Wenn Du mehr zum Themenbereich Islam, muslimisches Leben und gleichgeschlechtliche Sexualität erfahren möchtest, findest du hier einen wissenschaftlichen Vortrag:

Illustrationen: Darcy Quinn